Cover
Titel
A Dramatic Reinvention. German Television and Moral Renewal after National Socialism, 1956–1970


Autor(en)
Anderson, Stewart
Erschienen
New York 2020: Berghahn Books
Anzahl Seiten
VIII, 216 S.
Preis
$ 135.00; £ 99.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Phillip Wagner, Arbeitsbereich Historische Erziehungswissenschaft, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Was haben „Tatort“-Krimis, die Fernsehserie „Bad Banks“ oder die Verfilmung von Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Terror“ gemeinsam? Ebenso wie viele andere erfolgreiche Fernsehfilme verhandeln sie die Frage nach dem Guten und Bösen, nach dem richtigen Verhalten und den Kriterien gelingenden Lebens. Dass das Unterhaltungs-TV diese großen moralischen Themen aufgreift, ist nicht erst ein Phänomen der Gegenwart. Insbesondere seit dem Start der Fernsehprogramme 1956 wurden in Bundesrepublik und DDR verschiedene Formate entwickelt, die der ethischen Selbstreflexion dienten. Das ist der Ausgangspunkt von Stewart Andersons Studie. Der Verfasser untersucht, wie im ost- und westdeutschen Unterhaltungsfernsehen der 1950er- und 1960er-Jahren vor dem Hintergrund der NS-Geschichte Moral neu verhandelt wurde. Dabei fokussiert Anderson nicht nur auf einzelne Filme, sondern bezieht auch deren öffentliche Rezeption und Diskussion mit ein.

Als weiterführend erweist sich, dass Anderson die bisher nur selten im Mittelpunkt der Forschung stehenden Fernsehspiele untersucht. Diese aufwendig produzierten Filme wurden in den „langen“ 1960er-Jahren in beiden deutschen Staaten zu einem gesellschaftlichen Medium der Selbstreflexion. Denn sie fragten öffentlichkeitswirksam nach den moralischen Lehren, die aus Zweitem Weltkrieg und Nazi-Diktatur gezogen werden sollten. Mit diesem Fokus rückt der Autor interessante und neue Aspekte der deutsch-deutschen Nachgeschichte des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt. Zum einen ermöglicht es ihm die Frage nach der Medialisierung der „Vergangenheitsbewältigung“, anhand der Fernsehfilme eine bislang noch weitgehend unbekannte Arena der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit auszuleuchten. Zum anderen erlaubt es der deutsch-deutsche Blickwinkel, nicht nur die filmischen Topoi in Bundesrepublik und DDR zu vergleichen, sondern auch nach ihren grenzüberschreitenden Beziehungen zu fragen. Andersons überraschende Erkenntnis lautet, dass trotz der gegenseitigen Verdammung von Bundesrepublik und DDR im Kalten Krieg Fernsehfilme in beiden deutschen Staaten ähnliche moralische Imperative entwickelten.

Der Autor widmet sich zuerst der Frage, wie ost- und westdeutsche Fernsehfilme den Umgang mit dem Nationalsozialismus als Thema entdeckten. Während etwa die Regisseure von „Waldhausstraße 20“ (Bundesrepublik) oder „Nackt unter Wölfen“ (DDR) 19601 klar zwischen „bösen“ Nazis und „guten“ Widerstandskämpfern unterschieden, entwickelten spätere Filmemacher komplexere Rollen, die sich nicht in ein binäres Schema einfügten. Sendungen wie das westdeutsche Fernsehspiel „Menschen helfen Menschen: Zwei Tage von vielen“ (1964) oder der ostdeutsche Fortsetzungsfilm „Dr. Schlüter“ (1965) präsentierten nicht selten Erlösungsgeschichten, in denen ehemalige Nationalsozialisten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im jeweiligen Teil Deutschlands mühsam Zivilität neu erlernten.

Eng damit zusammen hängt das zweite Kapitel, das danach fragt, wie Fernsehfilme politische Vorbildfiguren entwarfen. Bis in die frühen 1960er-Jahre kreierten Fortsetzungsfilme wie „So weit die Füße tragen“ (Bundesrepublik, 1959) oder „Gewissen in Aufruhr“ (DDR, 1961) die widerstandsfähige und willensstarke Gestalt des „aufrichtigen Flüchtlings“ (S. 61), der aus der Kriegsgefangenschaft entkommt und schließlich im „richtigen“ Teil Deutschland heimisch wird. Nach dem Bau der Berliner Mauer gerieten diese Abenteuergeschichten aus der Mode. Regisseure fokussierten jetzt stärker auf moralische Dilemmata in ihren Gesellschaften – in Filmen wie „Die Kette an deinem Hals“ (Bundesrepublik, 1965) oder „Ohne Kampf keinen Sieg“ (DDR, 1966). Trotz unterschiedlicher politisch-ideologischer Bezugspunkte entwarfen solche Fernsehspiele jetzt über die innerdeutsche Grenze hinweg den gewissenhaften Menschen als Rollenvorbild.

Im dritten Kapitel zeigt Anderson, wie Fernsehspiele in Ost und West den zunehmenden Wohlstand als moralische Herausforderung thematisierten. Es verwundert nicht, dass westdeutsche Filmemacher, etwa der Regisseur von „Stadtpark“ (Klaus Wagner, 1963), den vermeintlich zunehmenden Materialismus beklagten und einen gemäßigten Konsum zum Leitbild erklärten. Interessant ist, dass DDR-Filmemacher ähnliche Handlungsorientierungen zu stiften versuchten. Der Regisseur von „Irrlicht und Feuer“ (Heinz Thiel, 1966) kritisierte nicht nur die fehlende Moral der westdeutschen Konsumgesellschaft, sondern entwickelte daraus die Botschaft an die eigene Bevölkerung, kontrolliert ihr Geld auszugeben.

Der vierte Teil der Studie schildert, wie im Fernsehen beider deutscher Staaten die Geschlechterordnung verhandelt wurde. Anderson zeigt, dass nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der DDR viele Regisseure wie etwa Georg Leopold mit „Papas neue Freundin“ (1960) die Kernfamilie verteidigten, indem sie die familiäre Intimsphäre idealisierten und den Ehebruch abwerteten. Zur Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft entwickelten die überwiegend männlichen Regisseure und Drehbuchautoren jedoch widersprüchliche Aussagen. Westdeutsche Filmemacher zeigten oft die Grenzen der Gleichberechtigung der Frau, so etwa in „Wie verbringe ich meinen Sommer“ (1967). Obwohl dagegen Regisseure aus der DDR wie selbstverständlich berufstätige und erfolgreiche Frauen ins Bild setzten, blieben auch viele von ihnen traditionelleren Frauenbildern verhaftet.

Schließlich untersucht Anderson, wie Fernsehspiele den Umgang mit sozialer und kultureller Diversität inszenierten. Zwar wählten die Regisseure unterschiedliche politische und ästhetische Schwerpunkte. Dennoch glichen sich etwa die Autoren von „In einem Garten in Aviamo“ (Bundesrepublik, 1964) und „Das Mädchen Rahel“ (DDR, 1961) darin, dass sie sich vom Antisemitismus und Rassismus des Nationalsozialismus distanzierten und Verhaltenslehren der Toleranz ins Zentrum rückten. Vor allem westdeutsche Filmemacher versuchten auch den Umgang mit den „Gastarbeitern“ auf diese Weise zu medialisieren. Zum Beispiel lässt sich das Fernsehspiel „Der Unfall“ (1968) als ein Plädoyer für ein tolerantes Verhalten gegenüber südeuropäischen Arbeitsmigranten verstehen. Gleichwohl zementierten solche wohlmeinenden Filme nicht selten das Bild der „Gastarbeiter“ als Fremde.

So überraschend und weiterführend einige von Andersons Einsichten zweifellos sind, hätten bestimmte Aspekte noch mehr Aufmerksamkeit verdient. Der Verfasser erzählt die Versuche der Fernsehfilme, eine neue Moral zu stiften, über weite Strecken als eine Geschichte der Abkehr vom Nationalsozialismus. Das ist zweifellos gerechtfertigt, denn viele Intendanten und Regisseure hatten sich dem Projekt einer Überwindung des nationalsozialistischen Denkens verschrieben. Gleichwohl bleibt die Frage offen, inwieweit trotz aller Distanzierungen vom „Dritten Reich“ Residuen der nationalsozialistischen Moral in beiden deutschen Staaten die medialen Idealbilder vom guten und schlechten Handeln prägten.2 Das war durchaus ein Thema der zeitgenössischen Debatte. So begann seit der Schändung der Kölner Synagoge an Weihnachten 1959 und den Nachfolgetaten eine weitreichende Gewissensforschung im Deutschen Bundestag und in der westdeutschen Öffentlichkeit, die um die Frage kreiste, ob eine nationalsozialistische Moral in der Gesellschaft fortlebe. Inwieweit dieses Nachleben des Nationalsozialismus auch die filmische „Vergangenheitsbewältigung“ in beiden deutschen Staaten prägte, wäre eine weiterführende Frage.

Als ebenso interessant könnte es sich erweisen, den Ort des Fernsehens in einer deutsch-deutschen Moral- und Mediengeschichte noch eingehender zu bestimmen. Hierzu liefert Anderson einige Hinweise in der Zusammenfassung, wo er argumentiert, dass Fernsehfilme nach 1970 immer weniger als Medium der gesellschaftlichen Aushandlung von Moral fungierten. Weitgehend offen bleibt jedoch, inwieweit die Normen, die in den Fernsehspielen in Szene gesetzt wurden, auch nach 1970 die deutsch-deutsche (Medien-)Geschichte prägten. Was sagen uns die westdeutschen Fernsehfilme über den Zusammenhang der ethischen Imperative der Nachkriegszeit und der erneuten, wenn auch anders gelagerten Moralisierung von gesellschaftlichen Konflikten in den 1970er- und 1980er-Jahren? Und wie sehr wurde in Ostdeutschland an den in den Fernsehspielen der 1960er-Jahre inszenierten Werten auch während der folgenden Jahrzehnte festgehalten?

Diese offenen Punkte schmälern nicht die Leistungen von Stewart Andersons Studie. Ihr Verdienst liegt vor allem darin, die deutsch-deutschen Gemeinsamkeiten der Medialisierungen von Werten und Normen im Kalten Krieg in ein neues Licht zu rücken. Damit liefert sie wichtige Erkenntnisse für eine Moral- und Mediengeschichte des geteilten Deutschlands. Deswegen ist es der Arbeit zu wünschen, dass sie weitere Forschungen zu diesem Thema anregt.

Anmerkungen:
1 Schon vor der bekannteren DEFA-Verfilmung in Regie von Frank Beyer (1963) gab es 1960 eine Verfilmung für den Deutschen Fernsehfunk unter der Regie von Georg Leopold.
2 Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt am Main 2010.